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Sieben Türen

 

Dortmund brennt

Und in den Trümmern und Häusern, in den Autos und auf den Straßen erwachen die Menschen ohne eine Erinnerung an die letzten Stunden und ohne die Katastrophe erklären zu können, die über das Ruhrgebiet hinweggerollt zu sein scheint.

Unter ihnen sind auch Bastian, Ayten und Jan. Sie durchleben all das Chaos und die Gefahren der ersten Stunden nach dem Erwachen und müssen bald erkennen, dass sehr viel mehr geschehen sein muss, als in den Medien gesagt wird, denn sie werden mit Gefahren und Wundern konfrontiert, die nicht möglich sein können.

So machen sich die drei Protagonisten dieser Geschichte auf die Suche nach Antworten und etwas, das sie Sicherheit und einen neuen Platz in der Welt nennen können.

 

In Michael Volmers erstem Teil seiner Trilogie verschmelzen drei unabhängige Geschichten zu einem Spiel aus Meinungen, Glauben und Wissen, in dem der Leser zu einem vierten Suchenden nach Antworten wird.

Vorlesungsreihe des ersten Tages

 

 

 

 

 

 

 

 

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Sieben Türen: IntroVorlesung
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Sieben Türen 1.1Vorlesung
00:00 / 15:54
Sieben Türen 1.2Vorlesung
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Sieben Türen 1.3Vorlesung
00:00 / 16:26
Sieben Türen 1.4Vorlesung
00:00 / 16:38
Sieben Türen 1.5Vorlesung
00:00 / 16:57
sieben_Tueren2.jpg
Sieben Türen 1.6Vorlesung
00:00 / 21:20
Sieben Türen 1.7Vorlesung
00:00 / 17:14
Sieben Türen 1.8Vorlesung
00:00 / 16:27
Sieben Türen 1.9Vorlesung
00:00 / 18:11
Sieben Türen 1.10Vorlesung
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Sieben Türen 1.12Vorlesung
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Sieben Türen 1.14Vorlesung
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Sieben Türen 1.16Vorlesung
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Sieben Türen 1.18Vorlesung
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Sieben Türen 1.11Vorlesung
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Sieben Türen 1.13Vorlesung
00:00 / 17:49
Sieben Türen 1.15Vorlesung
00:00 / 18:13
Sieben Türen 1.17Vorlesung
00:00 / 17:10
Sieben Türen 1.19Vorlesung
00:00 / 16:24
Sieben Türen 1.20Vorlesung
00:00 / 19:38

Leseprobe, die ersten drei Seiten:

Bastian erwacht.

Schmerzhaftes Ringen nach Luft, krampfhaftes Einatmen. Rot geaderte, zuckende Augen.

Er sieht nichts, nur verschleierte und schemenhafte Strukturen hinter verklebten Lidern.

Ganz langsam regen sich in ihm Gedanken, doch sie sind ebenso schemenhaft, Brocken. Sein Verstand versucht zu denken, wach zu werden, doch er ist zu benebelt, zu kraftlos und noch zu sehr von tiefem Schlaf umwickelt. Wie bei einem auf dem Rücken liegender Käfer, Gregor Samsa nach der Verwandlung, zucken seine Gedanken wie Beine in der Luft.

„W W I Ich IchIch W Wa“

Dann, plötzlich, träumende Klarheit.

„Was ist los?“ Bastian weiß es nicht. Nur allmählich sickert eine Ordnung in seine Gedanken und die tanzenden Schemen werden zu Filmstrecken. Ich habe geschlafen. Mein Gott, kommt es ihm in den Sinn, wie lange habe ich geschlafen? Er atmet tief ein, versucht sich zu sammeln, wieder in die Realität zurückzufinden und reibt sich die Augen.

Normalerweise kann er gut zwischen Wachsein und Traum unterscheiden, ganz gleich, wie tief er geschlafen hat. Jetzt aber meint Bastian zwar, wach zu sein, doch lassen sich die Bilder des Traumes nicht verscheuchen und es gibt keine Erkenntnis, kein Wissen, wach zu sein, oder noch zu schlafen. Es fühlt sich sehr unangenehm an, dass sich Traum und Wachzustand um die Herrschaft in seinem Verstand streiten und dass Bastian nicht in der Lage ist, sie zu trennen oder den Kampf zu beeinflussen.

Obwohl es sich anfühlt, als wäre er wach, sieht er noch immer Bilder seines Traumes. Die Arbeit ist ihm sozusagen mit nach Hause und bis ins Bett gefolgt und noch immer erscheinen die Wände der Intensivstation, auf der er als Krankenpfleger arbeitet, in seinem Verstand. Doch sie sind dunkel, als wäre die ganze Station ohne Licht. Bastian gefällt das nicht. Die Intensivstation ist immer beleuchtet und ihre dunkle Stille, wie er sie jetzt sieht, ist bedrückend wie ein Albtraum. Ein Albtraum? Ist das ein Albtraum? Doch da ist noch etwas: er meint sich zu erinnern, wie er in seinem Traum an den dunklen Wänden entlanggeschaut hat und unfähig war, sich zu bewegen. Doch diese Erinnerung ist sehr vage, eher ein Gefühl, kein konkretes Bild, an das sich langfristig erinnert werden kann und Bastian vergisst dieses Gefühl wieder und es zerfällt.

Das Licht flackert und geht an. Über ihm, etwas versetzt, hängt die Lampe der Intensivstation, eine Leuchtstoffröhre, die an zwei Metalldrähten befestigt ist. Bastian reibt sich erneut über die Augen und begreift nicht, was dieses Licht bedeutet, doch es tut ihm gut und hilft ihm, aus dem Nebel des Schlafs herauszufinden, denn es ist Zeit, diesen Traum zu verscheuchen. Er lässt seine Hände auf die Matratze zurückschnellen, schlägt auf sie, um sich aufzuwecken. Der Aufprall ist sehr viel schmerzhafter, als erwartet, denn die Hände fallen nicht auf die weiche Sieben-Zonen-Kaltschaummatratze seines Bettes, sondern auf etwas Hartes. Das ist keine Matratze. Er fühlt noch einmal genauer nach, reibt über eine kalte und harte Fläche. Bastian dreht den Kopf und schaut hin. Neben ihm sieht er Räder, klein und grau, und ein verkabeltes Gestänge, weißes Metall, schwarze Kabel. Er weiß, was das ist: es ist die Unterseite eines Krankenhausbettes. Und das Bett steht auf grauem Kunststoffboden. Bastian runzelt die Stirn und richtet sich mit einem Ruck auf. Ihm ist schwindelig und es dreht sich vor seinen Augen, außerdem nimmt er jetzt zum ersten Mal seinen schmerzenden Hinterkopf wahr, doch er bleibt sitzen und schaut sich um.

Die Verwirrung wird von etwas Unangenehmen aufgefüllt. Es ist eine infantile Hilflosigkeit, die dadurch entsteht, dass er nicht weiß, wo er ist und nicht in der Lage ist, Orientierungspunkte zu finden; ein Gefühl, als hätte alles, was er sieht, die natürlichen und bekannten Proportionen verloren.

Dann erhebt sich wie auf ein stummes Signal hin ein misstönendes, mechanisches Konzert; piepende Geräusche, klackende Mechaniken, automatisierte Luftströme.

Maschinen. Bastian kennt dieses Konzert: Infusomaten, Beatmungs-maschinen, Perfusoren, Ernährungspumpen.

Medizinisches Gerät. Krankenhausbetten. Die Lampen der Intensivstation. Die Wände der Intensivstation.

Wieso? Ist das kein Traum? Ist er etwa eingeschlafen? Er sieht an sich herunter, sieht hellblaue Kleidung und weiße Schuhe, Dienstkleidung und seine Dienstschuhe. Ich sitze auf dem Boden der Intensivstation, denkt er noch immer verwirrt. Wie konnte das passieren? Mein Gott, denkt er erneut. Was ist passiert? Bin ich wirklich eingeschlafen?    

                                                                                                                                                                 

Zuvor haben die Maschinen nur gepiept, wie sie es immer tun, wenn sie booten und angeschaltet werden, jetzt verwandelt sich das Piepen in ein wütendes Alarmieren.

Wenn man auf einer Intensivstation arbeitet, ist man ständig von der Akustik der Geräte umgeben und man entwickelt im Laufe der Zeit ein instinktives und selektierendes Gespür für das permanente Piepen, Bimmeln oder Klingeln der medizinischen Geräte. Wie bei einer Mutter, die nur auf das Babygeschrei ihres eigenen Kindes reagiert, wissen erfahrene Intensivpfleger sofort, was wichtig ist und was nicht, ob sie erst einmal abwarten können oder sofort handeln müssen, ob sie etwas hören müssen, oder nicht. Dadurch tritt die für Besucher teilweise verstörend wirkende Geräuschkulisse in den Hintergrund und wird erst dann wirklich wahrgenommen, wenn sie wichtig wird und eine Reaktion erfordert. Erfahrene Intensivpfleger müssen darüber nicht mehr nachdenken, sondern folgen eingeprägten Reaktionsmustern.

Und diese Proteste der Maschinen dürfen nicht ignoriert werden. Ihre Warnung schneidet durch die letzten Schleier, die der lange Schlaf vor Augen und Geist gelegt hat und werfen sie ab, wie ein bockendes Pferd seinen trägen Reiter. Bastian ist sofort wach, als hätte man einen Eiskübel über ihm ausgekippt, denn das, was er jetzt hört, ist das bedrohliche Schrillen eines möglichen Notfalls und es kommt von den Maschinen direkt neben ihm.

Er will aufspringen, doch er hält plötzlich inne. Sekunde mal, denkt er. Warum haben sie vorhin gebootet? Waren sie etwa aus? Das Licht ging an, das Licht, das eigentlich immer an ist, erinnert er sich. „Scheiße“, entfährt es ihm. Sein Verstand beschleunigt sich, die Maschinen waren aus! Die Patienten in den Betten, für die er zuständig ist, sind auf Leben und Tod auf diese Maschinen angewiesen. Jetzt möchte er aufspringen, muss sich aber am Bett festhalten und teilweise hochziehen, denn sein Körper ist steif und schmerzt, und seine Gelenke wirken starr und schwach. Trotz der eingeprägten Reaktionen bleibt eine seltsame Zurückhaltung, die ihn langsamer macht. Irgendwo in einer Ecke seines Verstandes sagte ihm etwas, dass die steifen Gelenke ein Zeichen dafür seien, dass er lange auf diesem harten Boden gelegen haben muss. Sehr viel präsenter aber ist die Frage, wie das passieren konnte und warum niemand ihn geweckt hat. War er ohnmächtig gewesen? Ist er allein? Doch es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn alles wird überdeckt von diesen seltsamen Alarmen und der Sorge um das Leben des Patienten, für den Bastian aus pflegerischer Sicht verantwortlich ist.

Das, was dort eben gebootet hat und jetzt protestiert, ist die Beatmungsmaschine. Bastian hat vor allem sie gehört, sie hat ihn aufstehen lassen und richtig aufgeweckt, denn dass sie jetzt so dringend alarmiert und eben gebootet hat, bedeutet, dass der Patient in dieser Zeit keine Luft bekommt. Eine Maschine, die hochfährt, kann erst arbeiten, wenn sie hochgefahren ist. Und ihr energisches Alarmieren bedeutet, dass etwas nicht stimmt.

Instinktiv ruft Bastian „Notfall!“ Wenn die Maschine nicht arbeitet, müsste er den Patienten mit einem Beatmungsbeutel manuell beatmen und hätte dann keine Möglichkeit, auf etwas anderes zu reagieren. Also benötigt er noch einen Kollegen. Doch niemand kommt. Er hört niemanden. Stattdessen wird sein Ruf von immer mehr Alarmen beantwortet. Die ganze Station, die ganze Luft, ist voll davon.

Was, zum Geier, ist bloß los? Doch für die Suche nach einer Antwort ist keine Zeit, Bastian muss ein Leben retten und tritt ans Bett, als genau in diesem Moment ein anderer Alarmton einsetzt: ein monotones ‚Dingdong Dingdong Dingdong (...)’. Bei diesem Geräusch drehen sich normalerweise Köpfe, beschleunigen sich Schritte, oder werden sofort Notfallmaßnahmen eingeleitet, denn dies ist der sogenannte Lebensbedrohliche Alarm, das heißt, dass die Überwachungsmonitore (die unter anderem die Signale der Herztätigkeit oder die Sauerstoffsättigung des Blutes messen) Signale des Körpers auffangen, die als akut lebensbedrohlich für den jeweiligen Patienten eingestuft werden. Bastian schaut zum Monitor. Eine gerade Linie: Asystolie, das heißt, dass das Herz nicht mehr arbeitet, stillsteht und somit keine Herztätigkeit mehr messbar ist. Auch dieser Alarm schallt mit einem Mal von allen Seiten über den Flur.

Bastians Blick fällt in diesem Moment zum ersten Mal auf den Patienten, neben dessen Bett er steht, doch anstatt die Elektroden zu kontrollieren, die als EKG-Verbindung zwischen Maschine und Mensch oft für Fehlalarme verantwortlich sind, zu handeln, Maßnahmen zu ergreifen, hält er für einen kurzen Moment inne und macht spontan sogar einen Schritt zurück, weg vom Bett.

„Scheiße, was ist denn das?“

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